# 8 (12. November 2000)

 

Definiert man Ereignis als ein Geschehen, dessen Auftreten nicht erwartet worden ist, dann ist das klassische Ereignisfernsehen nicht das, was es zu sein vorgibt. Denn das Fußball-Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und Liechtenstein oder die Kommunalwahl im Saarland sind nicht nur wegen ihrer relativen Irrelevanz ereignisarm, sie sind gerade wegen ihrer medialen Vorbereitung, dem permanenten Bewerben und der Countdown-Promotion keine Ereignisse. Sie werden stattgefunden haben, das ist schon Wochen vorher klar. Wer nun der Sieger wird, ist ereignistheoretisch völlig unerheblich, denn sie können nur aus einer ebenfalls vorher bekannten Menge an möglichen Siegern stammen.

 

Aber es ist gerade diese Ereignislosigkeit solcher Veranstaltung, die es dem Fernsehen ermöglicht, sie als Ereignisse zu präsentieren. Denn nur so ist es möglich, bestimmte Diskursmarker so gründlich zu gestalten, daß die perfekte Inszenierung eines Ereignisses entsteht. Einer der wichtigsten dieser Marker ist der Reporter. Nichts deutet mehr darauf hin, daß ein Ereignis stattfindet, als daß jemand live vor Ort ist, denn nur ein solcher Reporter ist fähig, sofort auf Geschehnisse zu reagieren und sie zu beschreiben. Weil es Sternstunden der Reportage wie die Explosion der "Hindenburg" in Lakehurst gegeben hat, ist in den Zuschauer der Pawlowsche Reflex einprogrammiert worden, daß, wenn es einen Reporter gibt, es auch ein Ereignis geben muß. Aus diesem Kalkül heraus, wird Wochen vorher bestimmt, an welchen Orten es am ereignisreichsten sein muß, wie viele und welche Reporter dort diesen Eindruck am besten transportieren könnten und was genau gesagt werden soll, damit die Studiomoderatoren auch wissen, welche Fragen sie zu den Antworten stellen können.

 

Ein anderer Diskursmarker ist der Experte im Studio. Auch hier gibt es eine kalkulierte Assoziationskette: Weil ein Ereignis so unverhofft passiert und die Journalisten so unvorbereitet trifft, daß keine Recherche mehr möglich ist, ruft man einen Experten zu Hilfe, der einem mit seinem Fachwissen aus dem Stand helfen kann. So lautet zumindest die Rhetorik eines solchen Arrangements im Fernsehen. Aber auch hier wird umgekehrt vorgegangen. Weil man diesen Eindruck erzeugen möchte, überlegt man im Vorfeld, welcher Experte denn am besten zu diesem Bild beitragen könnte. Fachwissen ist dabei nur ein Aspekt unter vielen, ein akademischer Titel in einem irgendwie relevanten Fachbereich ist schon Legitimation genug, noch wichtiger sind Aussehen und wohltönende Stimme (aus diesem Grund hat man leider auch noch nie Jürgen Habermas als Studioexperten erleben dürfen).

 

Dieses alles gegeben, sollte die Wahl in Amerika eines der Mega-Ereignisse in der politischen Fernsehberichterstattung werden. Reporter waren vor den Wohnhäusern bzw. Amtssitzen von Gore und Bush in Nashville und in Austin plaziert, Reporter standen in Wahlstudios in Washington, die zu Reportern schalteten, die vor irgendeinem dekorativen Hintergrund in Washington herumstanden (als ob man nicht spätestens seit Erfindung des Telegraphen in jedem anderen Winkel der Welt genauso viel über ein Geschehen in Washington erfahren könnte), Reporter standen an den Börsenplätzen, um die Reaktion dieses EKGs unserer Tage auf die Wahl zu vermelden, Reporter waren bei dem amtierenden Präsidenten, Reporter waren bei ausländischen Staatsoberhäupten - alle, um über ein Ereignis zu berichten, also über ein unerwartet eingetretenes Geschehen. Doch dann passierte das Unfaßbare: nämlich nichts. Es gab kein Wahlergebnis zu vermelden. Das Ereignis fand nicht statt. Und, so paradox es anmuten mag, dadurch wurde es zu einem tatsächlichen Ereignis.

 

Wie unvorbereitet die Ereignismaschinerie des Fernsehens auf dieses Ereignis des Nichtereignens und wie unerträglich es für sie war, zeigt die Tatsache, daß schließlich George W. Bush zum Sieger ausgerufen wurde. Die Männer von n-tv in ihrem Wahlstudio in Washington schauten NBC und sahen, daß man sich dort zu einem Ergebnis entschlossen hatte; daraufhin holte Chefkorrespondent Roger Horné eine Bush-Maske heraus und ließ sich von n-tv-Chefredakteur Helmut Brandstätter als Sieger gratulieren. Die Börse tat einen Satz nach oben, der Euro machte weiter schlapp, in Austin und Nashville suchte man nach den passenden Gefühlsausbrüchen. Doch auch wenn das Fernsehen es so wollte, an den harten Fakten der gezählten Stimmen konnte man auf Dauer nicht vorbei. Bush lag nur mit 1.805 Stimmen vorne, es mußte nachgezählt werden, wenn nicht noch schlimmer. Denn es könnte noch Tage oder Wochen dauern.

 

In der ersten Ratlosigkeit wurden die immer gleichen Porträts der Kandidaten gesendet, dazwischen verkündete ein Studiomoderator, daß es nichts zu verkünden gäbe, Studioexperten mußten jeweils zwei verschiedene hypothetische Antworten entwerfen und der Reporter beim Bundeskanzler hatte Zeit, zu schildern, daß der Bundeskanzler keine Stellung nahm. Man versuchte sich mit dem bewährten Mittel der Paralipse über Wasser zu halten, indem man schilderte, wie peinlich es für die amerikanischen Fernsehsender sei, daß sie sich zu früh festgelegt hatten. Doch je länger der Zustand anhielt, desto wahrscheinlicher wurde es, daß er sich in absehbarer Zeit nicht ändern würde, er wurde also zu einem Zustand, der es dem Fernsehen ermöglichte, ihn als ein Ereignis zu inszenieren.

 

Aus "Der Entscheidung" wurde "Das engste Kopf-an-Kopf-Rennen in der Geschichte Amerikas", Vokabeln wie "Achterbahnfahrt" oder "Wahlkrimi" waren schnell zur Hand. Das real existierende Patt, das sich auch als Gleichgültigkeit interpretieren ließe, wurde zu einem Antagonismus umgedeutet; nach Meinung der Sondersendungen ging ein "Riß durch das Land", als würden wieder Nord- gegen Südstaatler stehen. Und nachdem die Ereignislosigkeit hinreichend bearbeitet und durchleuchtet worden war, ergab sich schließlich am Ende ein Thema, mit dem die Medien sich die nächsten Wochen in allen Einzelheiten beschäftigen können: Ist das Wahlsystem der Vereinigten Staaten noch zeitgemäß? Damit läßt sich die Zeit bis zu einem gewählten Präsidenten gut überbrücken. Man wünscht sich inzwischen sogar, daß es etwas länger dauert.

 

© Mathias Mertens, 2000

 

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