# 32
(1. Juli 2001)
Die Frau mit der schwarzen
Hornbrille rückt etwas vor. "Es gibt mir zu denken," sagt sie mit
leicht heruntergebeugtem Gesicht zum Mann schräg gegenüber,"daß
sie den Event erwarten. Genau dagegen ist dieser Text nämlich gerichtet."
Schiebt sich wieder zurück, guckt erwartungsvoll in die Runde und
meint, nun ein Totschlagargument geliefert zu haben. Sie spürt den
Druck. Sie fühlt die Kameras, die auf sie gerichtet sind. Sie muß
punkten. Wenn jetzt eine Pause entsteht, dann hat sie getroffen, dann wird
sie sich wieder vorbeugen können und eine längere Ausführung
über die eigentlichen Qualitäten des Textes machen können.
Doch die Herren ignorieren einfach die intellektuelle Wucht dieses dialektischen
Arguments und machen weiter, ja mehr noch, sie verdrehen ihre kluge Dialektik
und kontern potenziert dialektisch. "Sie dürfen nicht Furcht und Elend
als Event erklären und dann runtermachen." Müßte es nicht
"zum Event erklären" heißen, denkt sich die Frau, verkneift
sich diese Bemerkung allerdings, weil sie dann ganz schlecht rüberkommt.
Das wäre dann stutenbissig oder wie immer es die Altherrendenke bezeichnen
würde. Ausgelöst wurde dieser Streit durch eine sachbuchtitelartige
Sentenz des Nuschlers an ihrer Seite, der vom "gegenwärtigen Zustand
dieser Event- und Spaßkultur" gesprochen hatte. Jetzt hatte sie sich
sicher gefühlt, weil sie sein klischiertes Denken klug entlarven und
gegen ihn wenden konnte, da kommt dieser Glatzkopf daher und führt
sie beide vor. Wie konnte das passieren? Sie war gerade erst wieder nachnominiert
worden, sie, die jahrelang Stammkritikerin war, sie, die Leistungsträgerin
war, bis man dieser gutaussehenden Dunkelhaarigen den Vorzug gab, natürlich,
die kommt einfach besser rüber, hat keine Brille und überhaupt.
Kam so gut rüber, daß sie gleich weitergezogen ist, den nächsten
Karriereschritt, den jungen Liebhaber, das erste Kind. Nur weil sie wieder
weg ist, durfte sie wiederkommen, nur deshalb. Weil sie noch keine andere
Dunkelhaarige gefunden haben. Und jetzt schon wieder diese dialektischen
Watschen.
Wir wissen nicht, ob Juroren
beim Bachmann-Wettbewerb innere Monologe halten. Alle Figuren und Gedanken
dieses Textes sind Werke der Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder
toten Personen sind rein zufällig oder unvermeidlich. Einzig die gesprochenen
Sätze sind authentisch. Deshalb sollte man sich auch auf eine rein
textimmanente Interpretation beschränken, und nicht ein außerliterarisches
Wissen in die Texte bzw. die Jury hineintragen, um es dort als Aussage
wieder herauszuholen. Also: Wir können mit einigem Recht behaupten,
daß die Jury meint, wir lebten in einer "Event- und Spaßkultur"
und daß dieses Leben ein falsches sei. Außerdem wird literarische
Qualität als "Furcht und Elend" definiert, auch in der klassischen
Formulierung als "Furcht und Mitleid" bekannt. Als dritte Aussage läßt
sich aus dem Textkorpus herausfiltern, daß "Furcht und Elend" kein
Event ist.
Die klassische Rezensentenstrategie
wäre nun, die Veranstaltung selbst an diesen Aussagen zu messen. Etwa,
indem man beschreibt, wie während der Jury-Diskussion bei jeder negativen
Kritik auf das Gesicht des Autors in Großaufnahme geschnitten wird,
um sein mögliches Leiden einzufangen, seine feucht werdenden Augen,
sein verstohlenes Wischen über die Nase, sein gequältes Lächeln,
seine verschränkten Arme, sein verkniffener Mund. Sein ganzes Elend
also und seine wachsende Furcht vor den Kritikern. Wird gelobt, so sehen
wir keine Aufnahmen. Erfolg macht blöde. Eignet sich nur zum Lächerlichmachen,
aber das konnte man so schnell nicht vorbereiten. Wer will schon Zufriedenheit
anschauen, dieses selbstgefällige In-Sich-Hineinlächeln, dieses
Hin-und-Her-Wackeln des Kopfes, dieses sympathisierende Lachen mit den
Lobrednern? Nein, nein, Furcht muß her und Elend. So könnte
man das alles beschreiben, was da passiert, und dann die rhetorische Frage
stellen: Und das, bitteschön, soll kein Event sein?
Oder auch die Schalte auf
Hochkultur-Popstar Gerd Scobel, der sich mit Suhrkamp-Kultur-Haudegen Uwe
Wittstock zwischen den Lesungen und Diskussionen über das gerade Geschehene
unterhält. In der Inszenierungsästhetik ist das exakt bei RTL
und seiner Champions-League-Berichterstattung abgeguckt, wenn Günther
Jauch am halbrunden Tisch steht und den Experten Franz Beckenbauer zur
eben abgelaufenen ersten Halbzeit befragt. Vielleicht ist es aber auch
eine Kopie der Kopie des RTL-Originals, der trauten ARD-Zweisamkeit von
Gerhard Delling und Günther Netzer, die genau das machen, was auch
Günther Netzer und Franz Beckenbauer machen. Was dann Gerd Scobel
und Uwe Wittstock machen. Nämlich: „Wie fanden sie das Spiel bisher?
Mir schien es noch etwas zahm.“ zu fragen und es dann mit der Autorität
eines Experten bestätigen zu lassen. Wobei man „das Spiel“ durch „die
Diskussion“ ersetzen muß, um den exakten Wortlaut von Gerd Scobel
zu haben. Und das, bitteschön, soll kein Event sein?
Oder, als letztes Beispiel,
die Kameratotale auf die Juryrunde. Die obere Hälfte des Bildkaders
wird von den Juroren an ihren Tischen und der dezenten Papierbahnen-mit-angelehnten-Spiegeln-Kulisse
eingenommen, die untere Hälte gehört den Zuschauerhinterköpfen.
Kaum ist die erste dieser Totalen gesendet, hat man auch schon das wohlige
Gefühl, daß man bei etwas Frischem, etwas Unverbrauchtem, etwas
duftig Riechendem, kurzum einer unaufdringlich sexy Veranstaltung beiwohnt.
Aber wie kommt das? Bei der zweiten Totalen wird es klar. Die Aufnahmeleitung
hat genau in der Mitte des Bildfeldes eine kleine Herde von blonden Pferdeschwanzträgerinnen
zusammengetrieben, deren Hinterköpfe nun ihren Spät-Lolita-Charme
ausströmten und das lesemufflige männliche Publikum doch noch
binden konnten. Wie eine Kohorte von Schriftstellergroupies sitzen sie
dort und lassen eine Literaturveranstaltung genauso frisch wie Minz-Kaugummi
ohne Zucker oder Creme-Duschbad erscheinen. Daß sie extra plaziert
worden sind, steht außer Frage, das kann man jederzeit als Zuschauer
im Studio nachprüfen. Da kommen dann die Damen mit den Headsets und
den Clipboards und geleiten die Proleten in Ballonseidenanzügen mit
der vagen Begründung, die Plätze seien schon reserviert, aus
der ersten Reihe und lotsen sie in einen unbeleuchteten, toten Winkel,
den die Kamera während der Sendung niemals streifen wird. Und das,
bitteschön, soll kein Event sein?
Das Fazit einer solchen
Rezension muß also lauten, daß die versammelten Damen und Herren
alles Heuchler sind. Sie ereifern sich und argumentieren gegen die Spaß-
und Eventkultur, um an eben dieser teilzuhaben. So weit so gut. Aber so
plump wie unzutreffend. Denn diese Damen und Herren wären die ersten,
die diese Argumentation gegen sich unterstützen würden. Denn
zur Event- und Spaßkultur gehört es nun mal, die Event- und
Spaßkultur schlecht zu machen, das macht am meisten Spaß. So
wie Kranksein auch Spaß macht, weil man dann seiner Umgebung ungestraft
die Ohren volljammern kann. Das ist der vollendete Ennui, der absolut wasserdichte
Ekel, der in sich selbst hineinkotzt, um überhaupt nichts zu verlieren.
Dagegen zu wettern und mit dialektischem Zeigefinger zu drohen, ist Blödsinn,
weil es zum Spiel gehört, eingeplant ist, das reziproke System füttert
und stabilisiert.
Es ist auch alles gar nicht
schlimm. Im Gegenteil. Denn es ist, wie es so schön während des
Bachmann-Wettbewerbs formuliert worden ist, „Furcht und Elend“, die man
nicht als Event heruntermachen darf. Das kommt aus der aristotelischen
Poetik, wo es noch „Phobos“ und „Eleos“ hieß, und erst von Lessing
auf „Furcht und Mitleid“ festgelegt wurde. Dabei läßt es sich
auch als „Schauder und Rührung“ übersetzen, oder als „Schrecken
und Ergriffenheit“, auf jeden Fall müssen es starke Gefühle sein,
die durch starke Reize ausgelöst werden. Wir wollen die Achterbahn,
wir wollen den Splattermovie, wir wollen den Event, und das nicht erst,
seitdem wir angeblich reizüberflutet und abgestumpft durch die audiovisuellen
Medien sind, sondern seitdem wir vor 2.500 Jahren in Griechenland die Demokratie
erfunden haben. Denn „Furcht und Mitleid“ sollen zur „Katharsis“ führen,
zur „Reinigung“, nicht im sozialpädagogischen Sinne, daß wir
danach von solchen Trieben befreit sind, sondern damit wir uns wieder dreckig
machen können. Mit der nächsten Achterbahnfahrt, mit dem nächsten
Splattermovie, mit dem nächsten Bachmann-Wettbewerb. Zu dem gehört
die inszenierte Heuchelei wie das Kotzen zur Achterbahn. Mehr davon.
©
Mathias Mertens, 2001
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