# 46
(5. Mai 2002)
Nicht damit umgehen, sondern
es umgehen – Computerspiele müssen kultiviert werden, nicht verboten
Ministerpräsident
Dr. Edmund Stoiber sagte diese Woche einen denkwürdigen Satz. Anläßlich
des Amoklaufes in Erfurt forderte er eine von allen Parteien unternommene
Änderung des Waffengesetzes in den nächsten Wochen. Zitiert wurde
der Kanzlerwerdenwollende in den morgendlichen Radionachrichtensendungen
des 30. April mit den Worten „Diese Diskussion muß jetzt wirklich
ohne Auseinandersetzungsbereitschaft geführt werden.“ Wir wissen über
den Aspiranten auf das dritthöchste Amt des Staates ja, daß
er eine Wortfindungsschwäche hat, doch dieser Fall scheint dem nicht
zu entsprechen, weil er doch ein Wort gefunden hat. Sagen wollte er wahrscheinlich,
daß man jetzt ohne Schuldvorwürfe und ohne wahlstrategische
Überlegungen miteinander reden solle. Gesagt hat er allerdings etwas
anderes. Nämlich daß man diskutieren solle, ohne sich mit dem
anderen oder mit dem Gegenstand auseinanderzusetzen. Diese Aussage hat
er ohne Stottern getätigt, es war also ein bewußt gesetzter
Satz, dessen Charakter als Oxymoron ihm nicht auffiel. Wie auch den Radiostationen
nicht, die ihn immer wieder reproduzierten. Man stößt sich also
nicht am Widerspruch, sondern man erlebt ihn als eine den Umständen
entsprechende Feststellung. Und das stimmt, wenn man sich anguckt, wie
mit dem Verbrechen von Erfurt umgegangen wird.
Kaum 36 Stunden nach der
Tat hatten sich Medien und Politik gegenseitig zu der Überzeugung
hochreagiert, daß Robert Steinhäuser durch Rockmusik, Gewaltfilme
und vor allem Computerspiele zu einem Amokläufer geworden war. Die
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung stellte das jahrealte Spiel Counterstrike
mit der sachlichen Überschrift „Die Software zum Massaker“ vor, und
schilderte, wie man bei den Opfern zwischen Playmobilmännchen und
Schulmädchen wählen kann, so, als wären das nicht von einzelnen
Nutzer hergestellte Patches, die man sich im Internet besorgen kann, sondern
als wären das vom Hersteller vorgesehen Features. Der für Besonnenheit
und Ausgewogenheit bekannte bayrische Innenminister Günter Beckstein
forderte aus tiefster Überzeugung heraus das Verbot von Computerspielen
und machte die ganz sachliche und in keinem Zusammenhang mit der Bundestagswahl
zu sehende Aussage, daß Familienministerin Bergmann seit zwei Jahren
einen CDU/CSU-Antrag auf Verbot von Gewaltfilmen und Computerspielen ignoriere.
Schon vor längerer Zeit, als im Spitzenland Bayern ein Schüler
mit dem Gewehr seines Vaters auf Passanten schoß, war in den Fernsehnachrichten
die Meldung zu hören, die Polizei habe in seinem Zimmer „Computerspiele
und rechtsextreme Schriften“ sichergestellt. Was man aus diesem ganzen
Getöse heraushören kann, ist die Aussage: „Jedes Spiel, das auf
einem Computer läuft, macht aus jedem Menschen einen Massenmörder“.
Das ist eine Diskussion ohne Auseinandersetzungsbereitschaft.
Bei jedem anderen Medium
ist man bereit, zu differenzieren. Man spricht nicht von „Filmen“, sondern
von „Gewaltfilmen“, man spricht nicht von „Schriften“, sondern von „rechtsextremen
Schriften“, man spricht nicht vom „Fernsehen“, sondern von „Gewaltsendungen“,
man spricht nicht von „Gewehr“, sondern von „Pumpgun“. Nur Computerspiele
sind Computerspiele und sonst gar nichts. Es sei denn, man zeigt die Festlegung
auch semantisch an und spricht von „Killerspielen“. Die Differenzierung
bei allen anderen Medien zeugt davon, daß man mit ihnen umgegangen
ist, sich mit ihnen auseinandergesetzt hat und man dabei die enorme Bandbreite
ihrer Erscheinungsform kennengelernt hat. Außerdem hat man dabei
einen bestimmten Bereich des Spektrums so schätzen gelernt, daß
man nicht mehr auf ihn verzichten möchte, weshalb eine pauschale Kritik
des Ganzen nicht mehr in Frage kommt. Computerspiele betreffen scheinbar
nur Kinder und Jugendliche, deshalb darf man sich öffentlich nicht
dafür interessieren. Einzig der Verbotsdiskurs ist möglich, weil
man dabei anzeigen kann, daß man sich nicht dafür interessieren
darf. Man kann dann darüber diskutieren, ohne sich damit auseinandersetzen
zu müssen.
Daß man das Medium
Spielfilm generell schätzt und seine kulturellen Leistungen anerkennt,
führt beispielsweise dazu, daß ein rassistisches und ideologisch
gewaltverherrlichendes Machwerk wie David W. Griffiths Birth of a Nation
gemeinhin als der große Meilenstein des Mediums anerkannt wird. Denn
seine erzählerischen Leistungen waren zum damaligen Zeitpunkt bahnbrechend,
er zeigte Möglichkeiten auf, die Film über seinen Status als
Jahrmarktsvergnügen und Konservierungstechnik für Theaterszenen
in den Rang einer Kunstform hoben. Mit dem gleichen Respekt für die
künstlerische Leistung unabhängig vom Inhalt wird auch Leni Riefenstahls
Triumph
des Willens behandelt, wenngleich in Deutschland mit sehr großem
Vorbehalt. Auch in der Literatur gilt Homers Ilias als eine der
größten Geistesleistungen, die von der Menschheit bisher hervorgebracht
wurde, obwohl das Epos doch nur davon handelt, wie die Menschen einer Stadt
jahrelang leiden unter einer Belagerung leiden mußten, die durch
eine persönliche Eitelkeit begründet wurde, wie einzelne Krieger
von ihnen erbarmungslos gehetzt werden und wie schließlich die gesamte
Bevölkerung durch Hinterlist abgeschlachtet wird. Der Autor sagt es
ganz explizit zu Beginn, es geht nicht um edle menschliche Gefühle,
sondern um den reinen Haß, den Zorn des Achilles, um genau zu sein.
Und trotz dieser ganzen Brutalität haben wir Hochachtung vor der Leistung,
die lange Erzählung erfunden zu haben, die Selbstvergewisserung einer
Gesellschaft mittels symbolischer Geschichten, die kunstvolle Sprache,
die metaphorische Attribuierung, Synästhesie, Erzählperspektive
aus dem Nichts zu schöpfen oder zumindest aus dem religiösen
Sprechen herauszulösen und für säkulare Zwecke nutzbar zu
machen.
Diese differenzierte Betrachtung
unternimmt man vor allem deshalb, weil man sich mit den Medien auseinandergesetzt
hat. Das heißt, man hat sie selbst rezipiert und kann deshalb die
Folgen eines Konsums aufgrund eigener Erfahrungswerte abschätzen.
Und weil man sowieso immer von sich ausgeht, wenn man etwas beurteilt,
fällt diese Einschätzung grundsätzlich positiv aus, weil
man selbst das für sich überzeugendste Beispiel darstellt, daß
kein ursächlicher Zusammenhang zwischen Konsum und Verhalten besteht.
Zumindest für die Produkte, die man persönlich schätzt,
weshalb man auch alles daran setzt, deren Vorzüge hervorzuheben und
auf die Mängel der anderen hinzuweisen. Man will andere überzeugen,
will die Entwicklung des Ganzen in bestimmte Richtungen treiben. So etwas
nennt sich dann öffentliche Diskussion, weil jeder nach diesen Grundsätzen
handelt. Man diskutiert, indem man sich mit den Gegenständen auseinandersetzt.
Man sagt nicht, daß Griffiths Birth of a Nation und mit ihm
die gesamte Filmindustrie, die auf ihm aufbaut, getilgt werden muß,
weil er einige furchtbare Perversionen enthält, sondern man weist
darauf hin, was man von seinen Leistungen bewahren sollte, um den ganzen
Rest nie mehr in anderen Filmen sehen zu müssen. Andere stimmen zu
oder argumentieren dagegen, insgesamt hat es jedoch einen Einfluß
auf die Gestaltung zukünftiger Produkte.
Norbert Elias hat dieses
Prinzip als den „Prozeß der Zivilisation“ beschrieben, eine historisch
voranschreitende Veränderung der dem Menschen innewohnenden Affekte.
So wurden die Menschen, die den Göttern geopfert wurden, zuerst durch
Tiere ersetzt, um schließlich in Ersatzhandlungen wie Fürbittegebet
und karitativem Engagement zu münden. Gleichzeitig fanden die blutigen
Rituale eine symbolische Darstellung im frühen Theater, entwickelten
sich zur Reflexion über dargestellte menschliche Gewalt im Mittelalter,
um schließlich bei den Nichthandlungen moderner Theaterstücke
zu landen. Aus Menschenjagd wurde Schauprozeß wurde Sportveranstaltung.
Alles das, weil die Menschen sich mit ihrem Tun auseinandersetzten, darüber
diskutierten. Über Computerspiele gibt es keine öffentliche Diskussion.
Es gibt entweder das plumpe Hochjubeln im Dienste der Industrie, wie es
in den unzähligen, grottenschlechten Computerspielzeitschriften passiert,
bei denen man zwischen Werbung der Firmen und Redaktionsbeiträgen
kaum unterschieden kann, und es gibt das Wegreden, das wir im Moment erleben
können. Beide Wege ermöglichen keine Entwicklung, beide zementieren
den Status Quo des Mediums. Eine Affektmodulierung der Spieler findet nicht
statt, dem Medium wird kein „Prozeß der Zivilisation“ zugestanden.
Im meinungsbildenden Feuilleton
sucht man Computerspiele vergeblich. Bestenfalls gelingt es einmal alle
zehn Jahre, daß ein Spiel wie Myst ehrfürchtig behandelt
wird, weil es sich bezeichnenderweise bei der Literatur anbiedert und also
wichtig sein muß. Interessant wäre es allerdings, wenn regelmäßiger
Computerspiele wegen ihrer medienspezifischen Leistungen behandelt würden.
Am allerwichtigsten aber wäre es, wenn auch Verrisse von Computerspielen
erschienen. Wenn Counterstrike so ein furchtbares Spiel ist, warum
hat man in den letzten Jahren keine einzige Rezension im Feuilleton lesen
können, die auf seine mangelhafte Qualität hinweist? Und zwar
nicht, weil es Gewalt darstellt, weil es eine „Ego-Shooter-Perspektive“
benutzt, sondern weil es unoriginell und langweilig ist. Man hätte
explizit auseinanderlegen können, warum Doom eine zu einem
bestimmten zeitgeschichtlichen Zeitpunkt wichtige und ästhetisch neuartige
künstlerische Leistung darstellte, ähnlich Griffiths Birth
of a Nation, warum Counterstrike und Half Life, auf dem
es aufbaut, allerdings nur ein kosmetisch verbesserter Abklatsch ist, der
einem ernsthaften Computerspieler keine wirklich neuen Erfahrungen bietet.
Ein solches Feedback würde auf kommende Spiele einen Einfluß
haben. So haben Spieler und Hersteller nur die Rückmeldung in Form
von Verkaufszahlen und sehen sich ermutigt, immer wieder dieselbe Scheiße
zu produzieren. Man kultiviert einen Garten nicht, indem man ihn niederbrennt,
sondern indem man alle Pflanzen zurechtstutzt. Diese Kultivierung hätten
Computerspiele auch nötig, nicht ein Verbot. Das wäre nur eine
inverse Form der Affirmation. Oder, um es ein letztes Mal zu strapazieren,
eine Diskussion ohne Auseinandersetzungsbereitschaft.
©
Mathias Mertens, 2002
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